Von Heimat und warum es möglich ist, mehrere Heimaten zu haben

Ich sitze zusammen mit meinen Eltern und meinem Bruder im Flugzeug von Frankfurt Richtung Accra, Ghana. Je mehr wir uns von Frankfurt entfernen und Accra immer näher kommen, desto mehr beschleicht mich ein Gefühl von nach Hause kommen, von Zuhause sein. Als dann die Lämpchen aufleuchten, die anzeigen, dass sich die Passagiere des Flugzeugs wieder anschnallen müssen und die Ansage des Piloten den Landeanflug auf die in bunte Lichter getauchte, afrikanische Großstadt verkündet, platz es aus mir raus und ich kann mir ein "endlich wieder daheim" nicht verkneifen. Dass ich mir mit diesem Satz skeptische Blicke meiner Familie einheimse war da irgendwie vorprogrammiert.

Aber welche Bedeutung spielt eigentlich der Begriff Heimat, wenn man nicht mehr nur eine einzige hat und man sich, gerade wie wir Reiseblogger, quasi in der Welt Zuhause fühlt?



Heimat - was ist das?

Je mehr ich darüber sinniere, was Heimat für mich persönlich bedeutet und welchen Stellenwert sie in meinem Leben hat, umso mehr kommt mir der Gedanke, dass Heimat ein typisch deutsches Wortkonstrukt ist. Ein Wort, dem in unserem Sprachgebrauch eine viel größere Bedeutung zugemessen wird, als es eigentlich hat.

Heimat. Laut Definition beschreibt Heimat den Ort, an dem wir geboren wurden bzw das Land, aus dem wir stammen. Am einfachsten übersetzen lässt es sich wohl mit dem englischen Wort roots, also dem Ort der Verwurzelung. Demnach müsste eigentlich für jeden einzelnen von uns unser Geburtsort Heimat sein. Meist ist das gleichzeitig der Ort, an dem wir aufgewachsen sind, an dem wir Zuhause sind. Der Ort, in dem wir in die Welt hinaus geschuppst wurden. Aber ist es wirklich so einfach, dass Heimat eben jener Ort zu sein scheint, von dem ich gerade gesprochen habe und ist die Definition von Heimat und Zuhause sein wirklich für uns alle die eine, gleiche?


Die verschiedenen Facetten von Heimat


Heimat ist viel mehr als nur das. Es ist die Erinnerung daran, wie etwas riecht und schmeckt oder wie sich etwas anhört. So kann zum Beispiel der Geruch von frischen, warmen Semmeln ein Gefühl von Heimat auslösen. Heimat muss also nicht immer nur an einen Ort gebunden sein. Sie kann genauso gut als ein Gefühl angesehen werden.

Für diejenigen unter uns, die gerne auf Reisen gehen, hat Heimat noch ganz andere Facetten und lässt sich viel schwieriger definieren als für jemanden, der noch nicht viel von der Welt gesehen hat und der eben lieber Zuhause, dort, wo er wohnt, bleibt. Vielleicht wird uns gerade auf Reisen bewusst, was Heimat eigentlich bedeutet. Je länger wir uns an einem Ort befinden, je mehr wir in die Kultur und die Lebensweisen und -ansichten der Menschen, die dort leben, hineinblicken dürfen, umso schneller bekommen wir ein Gefühl von Zugehörigkeit. Laufe ich durch die verstaubten Straßen Accras, strahle ich aus, dass ich hierher gehöre. Ich gehe, fast automatisch, genauso gerade wie die Frauen, die ihre Waren auf dem Kopf tragen und feilbieten. So werde ich nicht mehr als Deutsche, als Obruni, die ich - geboren und aufgewachsen in Deutschland per Definition bin, angesehen, sondern als eine von ihnen, als eine Obibini. Ich gehöre genau so dazu wie die Frau am Straßenrand, die gerade ihre Tomaten zu den verschiedensten kleinen und großen Türmen aufbaut und zum Verkauf anbietet. Durch das Gefühl, dazuzugehören, habe ich gleichzeitig auch das Gefühl von Heimat. Ich weiß, wo ich hingehen muss, was wie abläuft, wo ich dieses und jenes kaufen kann und ich kenne das ghanaische Leben wie meine eigene Westentasche. Durch die Vertrautheit, die mich in Accras Straßen überkommt, durch die Orte, die ich hier sehe und die ich alle kenne und durch die Menschen, die mir hier begegnen, fühle ich mich fast 7171 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, Zuhause.

Nicht anders sieht es mit einem kleinen Fleckchen Erde kurz vor der spanischen Grenze in Südfrankreich aus. Als ich noch ein Kind war sind wir jedes Jahr im Sommer zwei Wochen lang an den immer gleichen Ort in Südfrankreich, nach Le Barcarès gefahren. Vom ersten tag an wusste ich, was ich sagen musste, wenn ich zwei baguettes kaufen wollte, ich wusste, welcher Bäcker die besten croissants àla chcolat hatte und welcher der vielen Verkäufer, die am Strand entlangliefen, die leckersten Chouchous und Baignes hatte. Mit der Zeit verstand ich die französische Sprache immer mehr, konnte mich mit den Einheimischen verständigen und schon bald waren diese zwei Wochen Südfrankreich jeden Sommer für mich kein Urlaub mehr, sondern vielmehr ein weiteres nach Hause kommen. Und heute? Dasletzte Mal war ich vor elf oder zwölf Jahren dort, aber ich habe heute noch den Geruch der Pinienwälder in der Nase und jedes mal, wenn mir dieser Geruch irgendwo begegnet, denke ich an Le Barcarès und mich überkommt ein Gefühl von Heimat.

Heimat muss also nicht nur ein spezifischer Ort sein, sondern kann auch viele verschiedene Orte beinhalten. Das ist das Schöne daran, denn so kann der stumpfen definition getrotzt werden und Heimat bekommt diese vielen, ganz unterschiedlichen Facetten. Dabei ist es egal, ob für den einen die Sprache ein wichtiger teil von heimat ist, weil er so besser kommunizieren kann und verstanden wird, ob Erinnerungen an etwas damit einhergehen oder ob für die andere Heimat eben doch der Ort ist, an dem sie verwurzelt ist und an dem ihre Familie und ihre Freunde leben.

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Die Tücken der Heimat


Heimat ist immer schöner, je weiter man von ihr entfernt ist. Klar, nicht überall auf der Welt fühlen wir uns wohl, dort, wo wir herkommen, ist auch nicht immer alles nur rosig und Friede, Freude, Eierkuchen. Das ist es in der Fremde, die wir vielleicht irgendwann als Heimat bezeichnen, da sie für uns einfach nicht mehr fremd ist und wir uns in eben dieser anfänglichen Fremde nun Zuhause fühlen, auch nicht. Es wird immer etwas geben, mit dem wir unzufrieden sind oder das doch nicht so ganz in das Idyll des Neuen, Aufregenden, des Abenteuers passt, auch wenn wir sagen, dass dieser oder jener Ort für uns zur heimat geworden ist.

Heimat ist schöner, je weiter wir uns von ihr entfernen. Mit der Zeit vergessen wir die weniger schönen Momente und Erlebnisse oder das, was uns zum Beispiel in der Heimat Deutschland nicht gefällt. Dann sehen wir nur das Gute. Die Dinge, von denen wir weniger begeistert sind, rücken in den Hintergrund und wir fangen an, diese alte Heimat in der neuen sogar ein wenig zu vermissen. Wir denken an leckeres Schwarbrot mit einer dicken Kruste, an den Flat White in unserem Lieblingscafé oder an den Griesbrei mit Zimt und Zucker, den wir als kleines Kind immer von unserer Mutter bekamen, wenn es uns einmal nicht so gut ging. Wir denken zurück an Treffen mit Freunden, an die Familie, an den Wald vor der Tür, obwohl wir hier an dem Ort, den wir jetzt als Heimat bezeichnen, vielleicht sogar das Meer direkt vor der Nase haben. Wir wollen immer das, was wir gerade nicht bekommen können und beschönigen dann die alte Heimat, eben weil es genau das dort gibt und hier nicht.

Vielleicht vermissen wir es aber einfach auch, uns in der Muttersprache zu unterhalten und hängen so Gedanken an den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, nach. Wäre es jetzt nicht schön, einfach im Dialek losquatschen zu können? Komme ich nach Monaten auf Reisen wieder zurück in die kleine Stadt, in der ich fast mein ganzes leben verbracht habe, versteht mich jeder, wenn ich anfange, in unserem Dialekt, der ein Gemisch aus Monnemer Bladd, Lombada Bladd und Bäschdedderisch ist (bei mir kommt ddadurch, dass ich viele jahre in Landau gelebt habe noch der Pfälzer Dialekt mit dazu), zu sprechen. Ich kann einfach drauf los reden, ohne groß zu überlegen, ob mein Gegenüber mich denn überhaupt versteht. Hier bin ich Zuhause, hier verstehen mich die Menschen. Auch das gehört zum Gefühl von Heimat dazu und mitunter kann es zeitweise ganz schön anstrengend sein, sich in einer anderen Sprache zu unterhalten, auch wenn man die Sprache noch so gut beherrscht. Es geht eben doch nichts über den heimischen Dialekt.

Umso lustiger ist es dann, wenn dir das passiert, was mir bei meinem ersten Aufenthalt in Ghana passiert ist. Nichtsahnend sitze ich auf der Terrasse des Volunteerhauses, in dem ich damals mit den anderen Freiwilligen gewohnt hatte, als ein anderer Volunteer aus dem Haus kommt. Bisher sind wir uns noch nicht über den Weg gelaufen und es beginnt die allgemeine Vorstellungsrunde. Ich hatte noch keine zwei Sätze gesagt und, wie ich dachte, wirklich darauf geachtet, nicht im Dialekt gesprochen, da unterbricht er mich und trifft mit der Aussage "ä Monnemer Schlappgosch" direkt ins Blaue. Den Dialekt kann ich also nicht wirklich verleugnen und so astrein ist mein Hochdeutsch dann wohl doch nicht, sodass am anderen Ende der Welt jemand direkt weiß, woher ich komme und mir somit irgendwie auch ein stückweit das Gefühl gibt, hier Zuhause zu sein, einfach weil er für längere Zeit dort gelebt hat, wo ich herkomme und ich so gleich ein Gefühl von Vertrautheit bekomme.

Was bedeutet Heimat und Zuhause sein für mich?


Zuhause sein und Heimat hängen für mich stark miteinander zusammen. Nur dort, wo ich mich Zuhause fühle, dort kann auch meine Heimat sein. Und so habe ich nach immer mehr Reisen nach Ghana gemerkt, dass dort viel mehr heimat für mich ist es es in Deutschland je sein könnte. Ich pendle zwischen den beiden Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, hin und her, habe abgesehen von meinen reisen mein ganzes Leben in deutschland verbracht, habe dort meine Familie und Freunde und doch hat es das westafrikanische Land irgendwie geschafft,mich so in seinen Bann zu ziehen und mir so viel zu geben, dass es nach und nach zur Heimat wurde und ich mich nun jedes Mal, wenn ich wieder in das Flugzeug Richtung Accra steige, auf den Heimweg mache. Denn spätestens dann, wenn ich vom Rollfeld auf dem Flughafen in Accra in das kleine Flughafengebäude laufe, den Geruch nach Ghana in der Nase habe und den obligatorischen Plausch mit dem Immigration Officer halte, der mich mittlerweile schon kennt, bin ich sicher, wieder Zuhause zu sein.
Zuhause ist aber nicht nur da, wo ich mich wohl fühle. Es ist noch viel mehr. Home is where the heart is. Und genau da ist meine Heimat. Genau dort ist mein Zuhause.

Auch Etienne von Vietmok hat sich Gedanken dazu gemacht, was Zuhause sein für ihn bedeutet und ob er in Deutschland oder in Vietnam sein Zuhause gefunden hat. Und du? Was bedeutet Heimat für dich und in welchem Ort, in welchemLand fühlst du dich Zuhause?

1 Kommentar

  1. Hey Wibke,

    vielen Dank für deinen interessanten Beitrag zur Blogparade. Ich fand es spannend zu lesen, wie auch bei dir der Begriff "Zuhause" stark von dem abweicht, was man in Lexika liest.

    Das Ghana sich für dich wie deine "echte" Heimat anfühlt, kann ich mit meinem Leben in Vietnam natürlich nur allzu gut verstehen. Auch ich kenne das Gefühl, ein anderes als mein Geburtsland als "Zuhause" zu empfinden.

    Vielen Dank und liebe Grüße aus Hanoi,
    Etienne

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